Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

 

Das legendenumwobene Verhältnis von Carlos und Erich Kleiber



Text in Japanese


Es war eine ganz besondere Herausforderung bei der Recherche zu meiner Kleiber-Biografie, das Verhältnis von Carlos zu seinem Vater Erich zu ergründen. Hier haben sich über Jahrzehnte hinweg Gerüchte und Anekdoten zu vermeintlichen Tatsachen verfestigt, die meist eher unreflektiert und ohne Bezug auf zuverlässige Quellen wiedergegeben werden.

Ich ging bei meiner Recherche vom oft gezeichneten Bild des autoritären, ja, diktatorischen Übervaters aus, der seinen Sohn angeblich schlecht behandelt und vehement versucht haben soll, ihm eine Laufbahn als Musiker zu verwehren. Dass Carlos Schwester dies ganz anders darstellt, reichte angesichts ihrer persönlichen Nähe zu Vater und Bruder nicht aus, um die gängigen Ansichten zu widerlegen. Doch andere, überaus enge Vertraute von Carlos Kleiber, hatten ebenso wenig den Eindruck eines schlechten Vater-Sohn-Verhältnisses.

Erhellend waren die zahlreichen persönlichen Dokumente, die ich einsehen konnte, unveröffentlichte Briefe von Erich Kleiber an seine Frau Ruth sowie Briefwechsel zwischen Carlos und seinen Eltern. Erich Kleiber erscheint darin als ein Mann, der unter der Trennung von der Familie litt und sich stets um das Wohlergehen seiner Frau und seiner Kinder sorgte, deren Zukunft ihm besonders am Herzen lag. Die musikalische Entwicklung von Carlos behinderte er allenfalls durch das ihm und seiner Familie nach der Emigration auferlegte Wanderleben. Er förderte die Musikalität seines Sohnes, respektierte durchaus auch dessen Wunsch, Musiker zu werden, sah aber klar die Gefahren einer nicht abwägbaren Zukunft als Musiker. So bestand er darauf, dass Carlos in derart schwierigen Zeiten einen sicheren Beruf erlernen sollte, ohne letztlich eine musikalische Laufbahn für ihn auszuschließen.

In meinem Buch habe ich diese doch sehr spannende Geschichte differenziert dargelegt, auch, dass gewisse schriftliche Äußerungen des Vaters die in Russels Erich-Kleiber-Biografie zitiert werden sowie einige von Carlos ironischen Bemerkungen gegenüber Bekannten, schlicht falsch ausgelegt wurden. Erich Kleiber war ein passionierter Briefeschreiber, der seinen virtuosen Stil mit viel Ironie würzte. Erbe und Einfluss des Vaters werden auch hier spürbar, denn Carlos verfasste schon als Jugendlicher köstliche Briefe. Wie Vater und Sohn miteinander korrespondierten oder mit anderen übereinander sprachen, lässt auf ein gutes, vertrauensvolles, geistesverwandtes und auf gegenseitiger Liebe beruhendes Verhältnis schließen. Dass der Vater seinem Kind in Zeiten eines gänzlich anderen Ideals von kindlicher Entwicklung dennoch eine sehr strenge Erziehung angedeihen ließ und impulsiv reagieren konnte, steht dabei außer Frage. Gerade in Carlos später Jugend war ihre Beziehung sicher nicht frei von Konflikten. Diese spitzten sich aber eben nicht dramatisch zu, als der Vater ihn zu einem Chemiestudium drängte. Stattdessen beendete Carlos das Studium mit dem Einverständnis seines Vaters wieder, kaum dass er es begonnen hatte. Erich Kleiber organisierte sofort das Musikstudium seines Sohnes, durch das der allerdings anfangs ohne allzu großen Arbeitswillen schlenderte. Erst als der Vater ihm eindringlich ins Gewissen redete, ihn unter Druck setzte, entwickelte Carlos den Ehrgeiz, der für eine erfolgreiche Karriere als Musiker notwendig war. Wie schnell Erich Kleiber dem Willen seines Sohnes nachgab und wie tatkräftig er ihn unterstützte, widerlegt alleine schon die Legenden.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Carlos nicht unter einem diktatorischen Vater litt, sondern vielmehr nachhaltig unter dem defizitären Familienleben seiner Kindheit mit ständigen Ortswechseln, unter den Gängeleien von Kindermädchen und den ungeliebten Internaten. Gerade dort vermisste er jahrelang familiäre Geborgenheit. Diese Erfahrungen beeinflussten sein ganzes Leben und nicht allein das private maßgeblich. Ein unstetes, heimatloses Dasein, von einem Pult zum anderen, ohne Zeit für die Familie, wie es ihm sein Vater zwangsweise vorlebte, wollte er nicht führen. Künstlerisch eiferte er ihm indessen nach, erkor ihn aus tiefer Überzeugung zu seinem Idol, machte dessen Streben zum Maßstab für seine eigene Kunst. Hier scheint der zuweilen unerreichbar scheinende Übervater durch, dessen Erfahrungen ihn zudem schon früh mit den bitteren Seiten der Musikszene und den Folgen ihrer Intrigen vertraut machten.

Man sollte zwischen dem Vater-Sohn-Verhältnis und der Funktion Erich Kleibers als künstlerisches Idol von Carlos sehr fein differenzieren. Mir lag daran, dieses legendenumwobene Verhältnis einschließlich des weitgehend unbekannten Lebenswegs des jungen Carlos Kleiber endlich wahrhaftig, jenseits gängiger Ansichten, zu erforschen und darzustellen. Und wenn nun tatsächlich vieles in ganz neuem Licht erscheint, so wird dabei noch deutlicher, dass, um einen Zugang zum Verständnis von Carlos Kleiber als Mensch und Künstler zu gewinnen, kein Weg an seinem Vater, an seiner Kindheit und Jugend vorbeiführt.